Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur persönliche private Interessen, sondern auch persönliche Aufgaben stehen oft im Fokus des einzelnen Teammitgliedes und eben nicht das Teamziel. So zumindest die äußerliche Wahrnehmung.
Ich lasse mich beim Herangehen an solche Herausforderungen insbesondere von den Erkenntnissen von Patrick Lencioni (5 dysfunctions of a team) inspirieren. Demnach ist das Zurückstellen eigener Interessen zugunsten der Teaminteressen nicht etwas, das eingefordert werden muss (geschweige denn kann), sondern etwas das insgesamt mit der Teamreife des Teams zu tun hat.
Für effektive Teamarbeit (= die sogenannten high performance teams) müssen einerseits die sozial-dynamischen Gegebenheiten des Teams selbst UND die äußeren Einflussfaktoren auf das Team zusammenpassen.
Mit Ersterem ist gemeint, dass sich die Teammitglieder in allererster Linie gegenseitig vertrauen. Das bedeutet, man traut sich Missstände im Team offen anzusprechen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und kann auch nicht über Nacht erreicht werden. Vielmehr geht jedes Team durch die bekannten 4 Teamphasen nach Tuckman. Diese brauchen Zeit und (wichtig zu wissen) beginnen mit JEDER Teamveränderung von vorne. Unter anderem leitet sich daraus ab, dass die Teambesetzung über einen längeren Zeitraum stabil sein muss, damit das Team die Chance hat, sich durch diese 4 Phasen hindurch zu entwickeln. Der Scrummaster kann hier dem Team in der Eigenreflexion helfen, wo man sich gerade befindet und passende Maßnahmen anbieten, die diesen Prozess beschleunigen. Z.B. in einer anonymen Betrachtung, wie man sich gegenüber Teamkollegen verhält, wenn man mit irgendetwas unzufrieden ist, was die Teamkollegen gerade tun. Scheut man den Konflikt, weil man nicht unhöflich erscheinen mag? Oder spricht man den Missstand offen an? Ist das Team geübt darin, gegenseitiges wertschätzendes Feedback zu geben? Auch das lässt sich üben, z.B. in einer Retrospektive für jedes Teammitglied die beiden Fragen zu beantworten: Was schätze ich an Dir? Und was wünsche ich mir von Dir?
Hinsichtlich der äußeren Einflussfaktoren ist es besonders wichtig darauf zu achten, was die zu erreichenden Ziele des Teams sind? Sind es Einzelaufgaben, die parallel von verschiedenen Teammitgliedern abgearbeitet werden und die darüberhinaus in losem business-Zusammenhang stehen? Dann wird mit hoher Wahrscheinlichkeit kein echtes Team entstehen, sondern nur ein Gruppe von Co-Workern. Haben die Teammitglieder hingegen ein gemeinsames Ziel und sind darüberhinaus gegenseitig abhängig (d.h. sie brauchen einander, um das Ziel zu erreichen) kann daraus viel wahrscheinlicher ein echtes Team werden. Besonders schön ist das in der Grafik von Stefan Lindbohm und Viktor Cessan dargestellt:
Insofern geht es gar nicht so sehr darum, OB die Teammitglieder ihre eigenen Interessen den Teaminteressen unterordnen, SONDERN darum zu verstehen, welche Wirkung haben die äußeren Kräfte auf das Team. Idealerweise eben sind die äußeren Kräfte so hoch, dass die Teammitglieder ihre eigenen Interessen FREIWILLIG dem Teamziel unterordnen und nicht, weil es irgendjemand von ihnen fordert.
Was sich als besonders hilfreich herausgestellt hat, ist den Teams keine Aufgaben zu bringen, sondern ein Problem (des Kunden), dass das Team lösen soll. Zu oft sehe ich noch, dass Backlog-Items bereits vorgedachte Lösungsideen sind. Besser ist es, die Backlog-Items als Liste zu lösender Kundenprobleme zu verstehen und auch so zu beschreiben. Indem sich das Team eines Problems annimmt, ist es aufgefordert gemeinsam an einer möglichen Lösung zu arbeiten. Nachdem es das erreicht hat, geht es darum die Lösung umzusetzen, um das Problem zu lösen. Mit allem was dazu notwendig ist. Und wenn es das 'Rausbringen des Mülls' ist, damit das Problem zu 100% gelöst ist.
In Scrum ist dies besonders leicht zu erreichen, indem der Product Owner anspruchsvolle Probleme zum Team bringt. Es ist seine Aufgabe, dem Team das externe Kundenproblem sichtbar und greifbar zu machen, damit das Team versteht, welche Wirkung (Impact) die gefundene Problemlösung für den Kunden hat. Kein Teammitglied möchte bewusst einen Kunden enttäuschen, indem es dessen Probleme ignoriert. Das macht es jedem Teammitglied leichter, die Teamziele den eigenen Interessen voranzustellen.
Henrik Kniberg drückt das in der Spotify-Engineering-Culture mit dem Ausdruck 'Alignment enables Autonomy' aus. Grafisch dargestellt hier:
Das heißt, erst das starke äußere Alignment schafft den nötigen Rahmen, damit ein Team wirklich autonom (= selbstorganisiert) arbeiten kann. Prinzipiell findet Selbstorganisation immer statt. Man kann sie nicht machen. Es ist so ähnlich wie der Flurfunk. Diesen kann man auch nicht machen. Er passiert einfach.
Eine kollaborative Kultur (wie in der Grafik von Henrik Kniberg dargestellt) und damit eine Teamkultur, die die Teamziele höher einstuft als die eigenen Interessen ist also vielmehr eine Folge der äußeren Faktoren. Auf diese gilt es besondere Aufmerksamkeit zu legen. Arbeit am System, nicht am Menschen!