Liebe Melanie,
was immer ein guter Startpunkt ist, ist sich zunächst bewusst zu werden, WARUM es diese Praktik ursprünglich einmal gab? Wozu hat das Mitarbeitergespräch, als es erfunden wurde, einmal gedient? Wir müssen uns vor Augen halten, dass im letzten Jahrhundert Arbeit ganz anders ausgesehen hat. Der Mensch war der verlängerte Arm der Maschine und mehr oder weniger wurde er auch so gesehen und behandelt. Um zu beurteilen, welche Leistung (genauer Wertschöpfung) der einzelne Mitarbeiter für das Unternehmen erbringt, reichte es aus, diesen jährlich zu 'beurteilen'. Daraus abgeleitet wurde dann oft das Gehalt verhandelt/angepasst oder auch Maßnahmen beschlossen, die die Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters erhöhen sollen.
Die Arbeit des 21. Jahrhunderts ist mittlerweile zu großen Teilen grundlegend anders. Was automatisiert werden kann, wird automatisiert und so verbleiben für den Menschen Arbeiten mit einem immer höher werdenden Kreativanteil, die eben einzig der Mensch vollbringen kann. Dazu kommt, dass Kreativarbeit zunehmend Teamarbeit wird. Z.B. werden in Design-Thinking Workshops oder Backlogrefinementmeetings gemeinsam neue Ideen entwickelt, die insbesondere aus der gegenseitigen Inspiration ihr Potential ziehen. So gesehen ist es folglich auch nicht mehr messbar, wer jetzt wirklich den kreativen Anteil beigesteuert hat. Womit eine individuelle Bewertung obsolet wird.
Ein weiterer Nachteil individueller Mitarbeiterbeurteilung ist, dass eben genau durch die 'individuelle' Beurteilung für jeden Menschen (wir alle würden so handeln) der persönliche Erfolg dem Teamerfolg oft vorgezogen wird. Dies muss im Übrigen kein bewusster Vorgang sein. Für die Leistungsfähigkeit eines Teams kann dies sehr, sehr nachteilig sein.
Mitarbeitergespräche werden oft im jährlichen Rhythmus abgehalten. In Zeiten heutiger Dynamik kann ein jährliches Gespräch nicht annähernd alle Aspekte behandeln, die während eines Jahres ersichtlich werden. Insofern ist das ständige Gespräch zw. Führungskraft und Mitarbeiter vorzuziehen. Z.B. bei einem Gemba-Walk, also wenn die Führungskraft in regelmäßigen Abständen direkt ZU den Mitarbeitern geht, um persönlich zu erleben, wie gut die Wertschöpfung funktioniert und ob die Mitarbeiter Sorgen oder Nöte haben, die gelindert werden könnten. Nicht selten kommt man dabei ins persönliche Gespräch. Und zwar in der passenden und akuten Situation, anstatt sich am Jahresende künstlich zurückerinnern zu müssen.
Und zu guter Letzt meine persönliche Meinung: Wer hat sich eigentlich sowas ausgedacht? Würden wir in unseren persönlichen Beziehungen auch so handeln? Z.B. in der Ehe allá "Schatz, unser jährliches Ehegespräch steht wieder an. Zähl doch mal auf, wo Du unsere Entwicklung im letzten Jahr gesehen hast. Welches Potential siehst Du für uns? ..." So kommuniziert doch keiner! Das ist blöd. Wie man in der Berufswelt so etwas als Professionalität hinstellen kann, ist mir ein Rätsel.
War das Dir eine Hilfe?
Lieben Gruß,
der Markus